Museum der Strohverarbeitung Twistringen

Geschichte der Strohverarbeitung in kurzen


Abhandlungen


Ein Überblick über Jahrhunderte

Um 1700

begannen die Bürger im Gebiet des damals ca. 2.500 Seelen umfassenden Kirchspiels Twistringen mit der Herstellung von Strohprodukten. Roggen war wegen des guten Bodens in Twistringen die Hauptanbaufrucht. Dabei war die Qualität des kräftigen und ganz besonders langen Strohs mitentscheidend, dass sich Twistringen im Verlaufe der letzten 300 Jahre zu einem führenden Standort der deutschen Strohverarbeitung entwickelte. 1791 hatte das Kirchspiel Twistringen 2700, der Ort Twistringen 900 Einwohner.


Schon Mitte des 18. Jahrhunderts

stellten hier viele Bewohner Strohgeflechte her und nähten daraus Hüte. Bei einer Einwohnerzahl von 3200 gab es um 1830 im Kirchspiel 800 bis 1000 Strohflechter und ca. 50 Strohhutmacher.


Ende des 19. Jahrhunderts

wurde mit einer Verpackungshülse für Glasprodukte das später finanziell einträglichste Produkt eingeführt.


Seit Anfang des 20. Jahrhunderts

wurden Strohtrinkhalme ausschließlich in Heimarbeit hergestellt. Diese drei Hauptprodukte machten Twistringen zu einem führenden Standort der Strohverarbeitung im norddeutschen Raum.


In der Blütezeit um 1930

waren bei 6.500 Einwohnern bis zu 2.000 Personen mit der Strohverarbeitung beschäftigt.


Um 1960

fand die Erfolgsgeschichte der Strohverarbeitung mit dem Beginn der Verwendung synthetischer Materialen zur Herstellung der genannten Produkte ihren Niedergang.


Heute

wird unter anderem noch mähdreschergeerntetes Kurzstroh verarbeitet. Zwei Maschinenbauunternehmen entwickeln und bauen nach wie vor Maschinen zur Verarbeitung von Natur- und Synthetikfasern. Die Maschinen kommen auch in den Unternehmen selber zur Herstellung von Produkten wie z.B. Dränfilter, Erosionschutz- und Dachbegrünungsmatten zum Einsatz.


Stroh hilft aus der Not

Die Entwicklung der Strohindustrie hängt eng mit den Lebensumständen der Twistringer im 18. und 19. Jahrhundert zusammen. Twistringen war im Gegensatz zu den umliegenden Orten überwiegend katholisch. Die katholischen Familien hatten oft sehr viele Kinder. Durch die Aufteilung der Ländereien im Erbfall entstanden immer kleinere Höfe, die bald nicht mehr wirtschaftlich waren. Zugleich neigten katholische Landbewohner - statistisch gesehen - seltener dazu, in industrielle Zentren abzuwandernDeshalb wuchs die Zahl der Menschen, die keinen oder nur sehr wenig Boden besaßen oder teuer gepachtet hatten. Sie alle konnten von den geringen Erträgen ihrer Landwirtschaft nicht leben. Nur die Heimarbeit bot ihnen eine zusätzliche Verdienstmöglichkeit.In Twistringen gab es jedoch keine Industrie, die viele Heimarbeiter benötigte. Man besann sich daher auf das Stroh, das in großer Menge und in besonders guter Qualität vorhanden war. Das Flechten des Strohs war einfach und konnte alle Familienmitglieder gleichzeitig beschäftigen - besonderes an den langen Herbst- und Winterabenden, wenn es nur wenig Arbeit auf dem Feld gab.

Twistringen - Stadt des Strohs

Bis in die 1950er Jahre galt Twistringen in der auf Landwirtschaft ausgerichteten Umgebung als "Hauptindustrieort", denn seit dem 19. Jahrhundert befand sich hier der größte und wichtigste Standort für strohverarbeitende Industrie in ganz Norddeutschland.

Schon Anfang des 18.Jahrhunderts hatten die Twistringer begonnen, aus Roggenstroh Geflechte und Hüte zu produzieren. Für die meisten Bewohner war dies ein wichtiger Haupt- oder Nebenverdienst. 1791 nannte der Twistringer Pfarrer Bramlage die Strohverarbeitung den "vornehmsten Nahrungszweig" im Kirchspiel. Um 1820 lebten in Twistringen und Umgebung ca. 3000 Menschen. 800 bis 1.000 von Ihnen betätigten sich zumeist in Heimarbeit als Strohflechter. In kleinen Werkstätten und Manufakturen fertigten weitere 150 Personen aus den Geflechten Strohhüte.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entdeckte man das Stroh als Verpackung für Flaschen. Bald produzierten mehrere Fabriken diese Strohhülsen, die in der Twistringer Mundart "Malotten" hießen.

In den 1920er und 1930er Jahren arbeiteten schließlich zwischen 250 und 500 Männer und vor allem Frauen in den Strohfabriken. Außerdem stellten weit über 1.000 Personen der insgesamt 7.000 Einwohner Strohprodukte in Heimarbeit her. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg verdrängten neue Verpackungstechniken und Materialien, wie der Kunststoff, die Erzeugnisse aus Stroh.

"Geiht use Stroh in alle Welt"

Die Verkehrslage Twistringens begünstigte den Vertrieb der Strohprodukte. Ab 1811 ließ Napoleon den Heerweg von Wesel über Bremen nach Hamburg zu einer Chaussee ausbauen. Die breite, gepflasterte Straße- einer der wenigen befestigten Wege in Norddeutschland - durchschnitt auch Twistringen.
Auf den alten Sandwegen hatten Kiepenträger die Geflechte und Strohhüte zu Fuß transportiert. Die neue Straße erlaubte den schnelleren und billigeren Einsatz von Fuhrwerken, die weitaus mehr laden konnten.

Seit 1873 hatte Twistringen einen direkten Anschluß an die neue Eisenbahnstrecke zwischen dem Ruhrgebiet, Bremen und Hamburg. Vor allem die Hersteller von Flaschenhülsen profitierten von der Bahn. Sie lieferten ihre "Malotten" auf diesem Weg nach Westfalen und in das aufstrebende Industriegebiet an der Ruhr. Auch in den beiden größten deutschen Seehäfen fanden sie Abnehmer . Und bald gingen die Malotten von hier aus ins Ausland.

Gleichzeitig konnte die Strohindustrie durch die Bahnlinie günstiger Rohstoffe und Halbfertigprodukte aus anderen Gegenden beziehen.





Auszug aus dem Dekret Napoleons zum Bau der Chaussee (1811)

Das kaiserliche Dekret ordnete dem Ausbau der Straße Wesel- Hamburg in einer Gesamtbreite von 14 m an, von denen 6 m gepflastert seine sollten. Daneben verlief der Sommerweg für Pferde und Gespanne. An den Straßenrändern waren Bäume vorgesehen, die im Winter zugleich als Schneefangzäune dienen konnten.

"Arbeitst in'n Stroh, warst dien Leben nich froh!"

In der Twistringer Strohindustrie spielte die Heimarbeit von Anfang an eine wichtige Rolle. Im 19. Jahrhundert bot sie vielen Besitzlosen und Kleinbauern ein zusätzliches oder gar das einzige Einkommen.

Ein Strohflechter verdiente nur wenig. Daher war die Mithilfe aller Familienmitglieder und selbst der kleinen Kinder erfordlich. Die Arbeitstage dauerten oft 8 bis 12 Stunden. Obwohl die Familien damit mehr verdienten als etwa die Leineweber in Hoya und Diepholz, herrschte Armut.

Trotz der gewerblichen und industriellen Entwicklung gegen Ende des 19. Jahrhunderts blieb die Heimarbeit bedeutend. Die Firmen stellten etwa für die Fertigung von Malotten in Heimarbeit leihweise Strohhülsen-Nähmaschinen zur Verfügung. Die Lohnverhältnisse in den Strohfabriken waren sehr schlecht. Die zu Hause arbeitenden Mütter und Kinder verdienten noch weniger. Dennoch erweiterten sie das Einkommen der Familien beträchtlich.

Die Heim- und Kinderarbeit setzte sich bei der Trinkhalm-Herstellung fort. Noch in den 1950er Jahren war es auf dem Lande kaum möglich, überhaupt Arbeit zu finden . Der Weg nach Bremen war weit und verlängerte den Arbeitstag enorm. Die Strohindustrie bot dagegen Arbeitsplätze in den Betrieben und in der Heimarbeit. Selbst von Kindern erwartete man spätestens ab dem 11. oder 12. Lebensjahr, dass sie nach der Schule "ihre" Bunde schnitten.

Strohverarbeitende Firmen im Twistringen

Maschinenindustrie begleitet die Strohverarbeitung

Mit der Twistringer Strohindustrie war die Entwicklung der ortsansässigen Maschinenfabriken eng verbunden. Für die sich verändernden Strohprodukte konstruierten sie immer neue Geräte. Durch die räumliche Nähe zu den strohverarbeitenden Firmen fanden sie dabei Lösungen, die über Jahrzehnte Bestand hatten. Ihre Produkte verkauften sie nicht nur in Twistringen und anderen Teilen Deutschlands. Besonders in den 1920er und 1930er Jahren erhielten sie auch Aufträge aus Nachbarländern und aus Übersee.

1887 gründete Arnold Meyer die erste Maschinenfabrik. Er produzierte zunächst Landmaschinen und bald auch Strohhülsennähmaschinen und Dreschmaschinen zur schonenden Bearbeitung des Strohs. Seit 1905 stellten seine Brüder Bernhard und Franz in der "Gebr. Meyer & Co. Maschinenfabrik" ebenfalls solche Geräte her. Vor dem 2. Weltkrieg fertigte auch die Firma Kramer & Buschmann Maschinen zu Malottenherstellung.

In den 1950er und 1960er Jahren mussten die meisten Fabriken die Produktion aufgeben oder auf andere Maschinen umstellen. Der 1912 gegründeten "Maschinenfabrik A.H. Meyer" gelang es jedoch - unter anderem durch die Entwicklung von Spezialmaschinen zur Verarbeitung von Kurzstroh- ihre Geschäftsbereiche bis heute weiter auszubauen. Eine ähnliche Produktpalette bietet auch die erst 1975 gegründete Firma "mst".

Blick in die Montagehalle der Twistringer Maschinenfabrik
Arnold Meyer AG (1947)

Die in der Westerstraße gelegene Firma beschäftigte 1943 insgesamt 85 Vollzeit-Arbeitskräfte. 1983 mußte das Unternehmen, das damals schon nicht mehr Maschinen für die Strohindustrie herstellte, Konkurs beantragen.

Maschinenbaubetrieb bei A.H. Meyer (1930er Jahre)

In der Mitte ist das Eisengestell einer unfertigen Nähmaschine für Strohhülsen zu erkennen. Seit den 1960er Jahren baute A.H. Meyer unter anderem Maschinen zur Herstellung von Isoliermatten aus Kurzstroh, Dränagerohren mit Strohummantelung und Strohkernmatratzen.

Ansicht des Fabrikgebäudes der Firma "Gebr. Meyer & Co.

(um 1925)

Die überdimensionierte Darstellung auf einem Werbeprospekt war typisch für ihre Zeit. Sie entsprach jedoch nicht den realen Größenverhältnissen. Vor 1905 waren Bernhard und Franz Meyer Mitinhaber der Firma Ihres Bruders Arnold.

Gelände der mst-Werke in Twistringen (um 1995)

Seit 1975 stellt die mst-Maschinenbau GmbH Spezialmaschinen zur Verarbeitung von Naturfasern her. Ein Jahr später begann die mst-Dränbedarf GmbH Produkte aus nachwachsenden Rohstoffen zu fertigen.

Notgeld

Das Stroh bildete in den 1920er Jahren die Lebensgrundlage der Twistringer. Sie verkauften Ihre "Höe und Hülsen" - Strohhüte und Flaschenhülsen - bis nach Amerika. Daher ist das Stroh das Hauptthema auf den Notgeldscheinen von 1921.

Damals herrschte in Deutschland Mangel an Kleingeldmünzen. Sie waren zur Gewinnung des wertvollen Rohmaterials im Ersten Weltkrieg und in den Jahren danach eingeschmolzen worden. Wie viele andere Orte gab die Gemeinde Twistringen als Ersatz Papiergeld heraus. 1921 erschienen zwei Serien mit den Nennwerten 25, 50 und 75 Pfennige. Die erste Serie gestaltete der Maler Georg Rohde aus Bremen.

"Stroh und Korn / des Segens Born. /so Twusterland / weithin bekannt"

Dargestellt ist die Herstellung von Flaschenhülsen, der wichtigste Zweig der damaligen Strohindustrie.

"Geiht use Stroh in alle Welt // ist et um Twustern god bestellt"

"Grabhorst Greten hett / mi loten geeten"

Eine Lokalsage berichtet von Grete Grabhorst, die für das Kirchspiel eine neue Glocke gießen ließ.

"Grabhorst Gretens Gold / Klingt vom Turm noch hold"

Grete Grabhorst vergrub ihr Gold zum Schutz vor Feinden. Der Sage nach wird es einst ein schwarzes Wildschwein wieder aufwühlen.

"Gohd use Höe un Hülsen ut Stroh / hinut in alle Welt, is't um Twustern god bestellt.

Der Bauer trägt einen der Twistringer Strohhüte.

"Stroh im Land, Geld in der Hand"

Das Twistringer Stroh erreichte eine besondere Länge.

Share by: